Wenn es plötzlich nirgendwo mehr rund läuft

Wenn das eigene Kind an Magersucht erkrankt ist nichts mehr so, wie es vorher war. Ab dem Zeitpunkt der Diagnose verändert sich plötzlich das gesamte Familienleben. Alles das, was früher eingespielt war, sich wie von selbst gefügt hat, gerät förmlich aus den Fugen. Die Diagnose trifft uns wie ein Schlag. Wie der Einschlag einer Bombe. Schnell und kraftvoll. Mit einer riesengroßen Wucht. Und plötzlich steht, wie aus dem nichts, in großen Buchstaben der Schriftzug MAGERSUCHT über uns geschrieben. Anfangs nehmen nur wir Mütter ihn wahr. Doch nach und nach können auch die anderen Familienmitglieder ihn sehen und spüren. Wir Mütter fühlen uns sehr mit unserer Tochter verbunden. Wir spüren ihren Schmerz und fühlen gleichzeitig unseren eigenen. Einen Schmerz aus Schuldgefühlen, Ängsten und Machtlosigkeit. Eine Kombination aus Gefühlen wie sie schlimmer nicht sein kann. Je nach Situation überwiegt eines dieser Gefühle. Mutter und Tochter werden immer mehr zu einer Einheit und leben ein Eigenleben. Wie in einem Kokon. Mutter und Tochter. Du und ich. Gemeinsam kämpfen sie gegen die Magersucht. Gemeinsam wollen sie das Biest erlegen, töten, verschwinden lassen. Es soll so schnell wieder gehen, wie es gekommen ist. Doch was wir Mütter anfangs noch nicht wissen ist, dass die Magersucht sich schon sehr lange eingeschlichen hat. Wir konnten sie nur noch nicht wahrnehmen.

Gemeinsam ziehen sie in den Kampf

Ich kann mich noch sehr gut an diese Zeit erinnern. Ich habe gar nicht gemerkt, wie sehr ich in diese Krankheit verstrickt war. Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass die Magersucht eine riesige Sogwirkung auf mich hatte. Meine Gedanken drehten sich nur noch um mein Kind, die Krankheit, Essen, Therapie und die Hoffnung auf ein Wunder. Ich glaube, dass ich mehr kämpfte, mehr Engagement gezeigt habe und mich mehr mit ihren täglichen Sorgen beschäftigt habe als sie selber. Mein Fokus lag ununterbrochen auf der Essstörung. Je fokussierter ich war, umso mehr rückte alles andere ins Abseits. Die Erfahrung aus meiner Praxis hat gezeigt, dass alle Mütter so agieren. Die eine mehr, die andere weniger extrem. Jede auf ihre eigene Weise, mit ihrer eigenen Leidensfähigkeit. Jede hat ihre individuelle Geschichte, ihre eigenen Erfahrungen. Alle sind wir ganz individuell und einzigartig. Und trotzdem handeln wir gleich. Trotzdem sind unsere Leidensgeschichten doch wieder so ähnlich. Und weil sie so ähnlich sind können wir uns alle ein bisschen verstehen. Einige meiner Kundinnen haben einmal zu mir gesagt, dass wenn sie meine Blogartikel lesen, sie das Gefühl hätten, dass ich über ihre Geschichte schreiben würde.

Die anderen Lebensbereiche verändern sich auch

Unser aller Leben besteht aus verschiedenen Bereichen.

Den Lebensbereichen

  1. Familie / Familienleben
  2. Partnerschaft / Ehe
  3. Freunde/ Beziehungen/ Sozialleben
  4. Gesundheit
  5. Arbeit/ Beruf/ Karriere
  6. Geschwisterkinder

Wenn wir Mütter so fokussiert auf unsere erkrankten Töchter sind und uns im Kokon der Magersucht aufhalten verlieren wir alles, was noch zu unserem Leben gehört, aus den Augen. Anfangs, in der sogenannten Schockphase, hat einfach nichts mehr Platz in unserem Leben. Es ist ganz normal, dass die Geschwister einen Schritt zurücktreten müssen, der Partner unser Unterstützer ist, die Hobbies und Freunde gerade nicht so wichtig genommen werden. Für die meisten unter uns ist der Beruf immer noch der Bereich, der Bestand hat. Hier können wir Mütter uns aus dem Drama zurückziehen und „abschalten“. Hier sind wir nicht Mutter einer an Magersucht erkrankten Tochter. Hier unterliegen wir dem Sog der Krankheit nicht.  Doch je länger die Krankheit dauert umso länger verweilen wir in diesem State. Es ist extrem schwer den sogenannten „Absprung“ zu schaffen. Der Partner bleibt entweder der Unterstützer oder zieht sich nach einiger Zeit resigniert zurück. Für fast alle Mütter ist es schwer sich um all die Dinge zu kümmern, um die sie sich vor der Erkrankung ihrer Tochter gekümmert haben. Dadurch, dass der Fokus weiterhin auf die Magersucht gerichtet ist, verlieren sie langsam ihr Umfeld aus dem Blick. Die Situation kostet die Mütter extrem viel Energie, die für alles andere fehlt.

Bei den meisten Müttern verändert sich zuerst die Partnerschaft

Durch die ständige Anspannung und Angst um das Kind übernimmt der Partner die Rolle des Beschützers. Er unterstützt seine Partnerin, ist Prellbock und Kummerkasten.  Er kann meistens die Situation nicht verstehen und auch gar nicht einschätzen. Männer denken eher pragmatisch und rational. Der Mann möchte gesehen werden und Partner bzw. Ehemann sein. Doch für eine Liebesbeziehung fehlt der Frau di Energie bzw. der Fokus. Bald steht auch keine Energie mehr für die Geschwisterkinder zur Verfügung. Sie werden nicht mehr so sehr beachtet und umsorgt wie vor der Magersucht. Denn jede „Störung“ der Mutter-Tochterbeziehung kostet immens viel Energie. Viele Geschwisterkinder werden schnell selbstständig. Sie sorgen sich um die Mutter und um die Beziehung ihrer Eltern. Manchmal entwickeln die Geschwisterkinder nach einiger Zeit ebenfalls ein „auffälliges Verhalten“. Die meisten Frauen ziehen sich aus ihrem Freundeskreis zurück. Sie sind müde und traurig. Sie befinden sich in einem dauerhaften „fight or flight“ Modus. Der Körper schüttet dauerhaft Stresshormone aus, um sozusagen „überleben“ zu können. Das führt ziemlich schnell zu gesundheitlichen Problemen. Anfangs sind es Kopfschmerzen, Nackenverspannungen, Magenschmerzen oder Magen-Darm Problematiken. Später werden die Beschwerden stärker und verlagern sich. Viele Frauen leiden unter starken Rückenschmerzen, Bandscheibenvorfällen und entwickeln sogar Depressionen. Das hat dann sehr oft lange Arbeitsunfähigkeiten zur Folge. Viele meiner Klientinnen haben sogar zu Psychopharmaka gegriffen. Durch die lange Zeit der Arbeitsunfähigkeit werden die Mütter ununterbrochen mit der Magersuchtssymptomatik ihrer Tochter konfrontiert. Oft ist ein Schulbesuch nicht mehr möglich sodass nun Mutter und Tochter auch räumlich nicht mehr voneinander loskommen.

Die gesamte Situation ist wie ein nicht endender Kreislauf der Emotionen zu betrachten. Man spricht auch hier von einer Co Abhängigkeit der Mutter.

Es gibt viele Familien, die an der Krankheit der Tochter zerbrechen

Die Belastung ist zu groß für die Mutter und das Verständnis des Vaters für die Gesamtsituation ist zu gering. Solange die Familie sich in dieser Schieflage befindet, wird die magersüchtige Tochter sich dafür verantwortlich fühlen. Das wiederum erzeugt weiteren Druck in ihr, der der Heilung im Wege steht.

Doch die Situation ist nicht aussichtslos

Ich persönlich habe all diese Erfahrungen gemacht und kann jede Mutter und jede Familie in dieser Situation sehr gut verstehen. Bis ich allerdings realisiert habe, dass ich es selbst in der Hand habe, wie es mir geht, wie es unserer Familie geht, wie es in unserer Partnerschaft weitergeht und wie es unserer erkrankten Tochter geht, hat es 6 Jahre gedauert. 6 lange Jahre! Nach 6 Jahren habe ich aufgehört zu kämpfen und die Situation so angenommen wie sie war. Ohne sie zu bewerten. Mit dieser Erkenntnis habe ich an mir gearbeitet. Ich konnte nochmal das Blatt wenden. Ich konnte mich aus dem Kokon der Magersucht befreien und wieder ein eigenständiges Leben führen. Ich habe mir meine Energie und meine Macht zurückgeholt. Ich habe Stück für Stück Vertrauen in mich und in unsere Situation entwickelt. Ich konnte wieder Leichtigkeit und Freude empfinden. Dadurch konnte auch unsere Liebe zueinander wieder neu entstehen und unsere Ehe auf ein ganz neues Level heben. Unsere Töchter gehen heute ihren eigenen Weg, selbst bestimmt, frei und engagiert. Die Krankheit hat bei uns allen ein Umdenken in Gang gesetzt von dem unsere gesamte Familie heute nur profitiert.

Von Herzen Danke, dass Du diesen Artikel gelesen hast. Vielleicht hast Du Fragen, die Dich selbst betreffen oder meine Arbeit. Nutze gerne die Möglichkeit für ein kostenloses Beratungsgespräch. Du kannst mich über das Kontaktformular oder die Kommentarfunktion anschreiben oder meine Kanäle auf Social Media nutzen. Ich freue mich über jede Nachricht.

Herzlichst

Michaela

 

 

 

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Kommentare

Ich freue mich auf eure Kommentare, eigene Erfahrungen und eventuelle Fragen!

Kommentar von Melanie

Auf den Punkt! Genauso! Du schreibst mir aus der Seele, ich fühle mich so verstanden und nicht mehr allein. Danke, für deine tollen Texte.

Antwort von Michaela Pukrop

Vielen Dank liebe Melanie für Deinen Kommentar. Ich freu mich sehr, dass Du meine Beiträge liest. Du bist überhaupt nicht allein. Es gibt so viele Mütter denen es genauso geht.

Von Herzen liebe Grüße

Michaela

Kommentar von Annika

Sehr aufschlussreicher und liebevoll geschriebener Beitrag. Danke, dass du auf ein so wichtiges Thema aufmerksam machst ! :-)

Antwort von Michaela Pukrop

Danke für Deine wertschätzenden Worte. Es bedeutet mir sehr viel, dass Du meine Beiträge liest.

Kommentar von Nina

Immer wieder so schön, Deinen Blog zu lesen…step by step <3

Antwort von Michaela Pukrop

Vielen herzlichen Dank liebe Nina,

das freut mich so sehr. Ganz genau, step by step in die eine Richtung......und dann in Richtung Heilung für die ganze Familie.

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