Manchmal muss es erst schlimmer werden…….

Deine Tochter hat sich auf den Weg der Heilung gemacht. Es war vielleicht ein langer Weg bis hierher. Es ist überhaupt eine lange Zeit vergangen bis Du gemerkt hast, dass etwas nicht stimmt. Dann kam die Diagnose und Euer persönliches Drama nahm seinen Lauf. Ich kenne es nur zu gut. Die Zeit der Ungewissheit und Angst ist mir noch so präsent. Du bist unentwegt im „Außen“ unterwegs. Suchst nach geeigneten Therapeuten, Ärzten und schließlich nach einer Klinik für Essstörungen. Dieser Prozess läuft meistens über eine sehr lange Zeit, weil Genehmigungen von Krankenkasse und evtl. Rentenversicherung vorliegen müssen. Dann die schrecklich langen Wartezeiten bis endlich mit der Therapie gestartet werden kann. Dein Kind ist nach langer Zeit endlich in der Klinik. Du setzt alle Hoffnung in die stationäre Therapie. Nach einigen Monaten wird sie endlich entlassen. Du bist noch etwas unsicher, fühlst Dich irgendwie hin und her gerissen bis Du Dich endlich traust es wenigstens zu denken.

Der Start in ein neues Leben

Du bist voller Hoffnung, dass sie es schafft. Mit Dir an ihrer Seite. Nach monatelanger Psychotherapie, Ernährungstherapie, Gewichtszunahme. Sie ist medikamentös eingestellt, freut sich darauf endlich wieder zuhause sein zu können. Freut sich auf die Schule und ihre Freunde. Doch bereits nach einigen Tagen ist die Euphorie verflogen und deine Hoffnung beginnt sich aufzulösen. Es dauert gar nicht lange bis sie sich wieder in dem alten, kranken Zustand befindet. Wieder stellst Du Dir die Frage: Was habe ich falsch gemacht? Warum hat sie in der Klinik zugenommen? Warum kann sie zuhause nicht essen? Manchmal gesellen sich andere Kompensationsmechanismen dazu. Starker Bewegungsdrang oder selbstverletzendes Verhalten. Für uns Mütter ist dieser Zustand kaum zu ertragen. Somit beginnt die erneute Suche nach der Ursache für den „Rückfall“. Therapeuten werden ausgetauscht, vielleicht ein Schulwechsel angestrebt. Du organisierst alles Mögliche damit sie endlich heilt. Doch nach einiger Zeit stellst Du fest:

Alles beginnt wieder von Neuem

Ein weiterer Klinikaufenthalt wird beantragt und die Wartezeit muss erneut eingehalten werden. Meistens wird eine andere Klinik gewählt und in diese ganz neue Hoffnung gelegt. Ein neues Konzept, neue Therapeuten und ein anderer Ort wirken Wunder. Denkst Du! Sie ist wieder monatelang in der Klinik, nimmt zu, macht Fortschritte und wird wieder entlassen. Neue Hoffnung, neue Zuversicht. Vielleicht ein weiterer Schulwechsel, andere Medikamente…… Alles beginnt erneut. Ich habe bei meinen Klientinnen erlebt, dass dieser Kreislauf über viele Jahre andauerte. Die Mädchen waren in vielen Kinder und Jugendpsychiatrischen Einrichtungen zum Stabilisieren. Dann folgte der Aufenthalt in Kliniken für Essstörungen um dann über die Aufnahme in eine Wohngruppe nachzudenken. Jeder neue Kreislauf kostet wahnsinnig viel Energie. Immer wieder müssen neue Anträge gestellt werden, bürokratische Hürden überwunden werden. Jedes Mal aufs Neue denken sich Mütter andere Tricks und Motivationsstrategien aus um die Tochter zum Essen zu bewegen. Einige versuchen es mit FBT (Familienbasierte Behandlung für Anorexia nervosa bei Kindern u. Jugendl.) um dann völlig entkräftet und machtlos aufgeben zu müssen. Die Kommunikation zwischen Mutter und Tochter wird in den meisten Fällen immer aggressiver.

Bis zu diesem einen Tag

Ich habe es schon bei einigen Klientinnen und auch selbst erlebt. Irgendwann kommt der Tag, der alles verändert. Der Tag, an dem alles noch schlimmer wird als jemals zuvor. Der Tag, an dem sie zusammenbricht und nicht wieder aufstehen kann. Der Tag, an dem der Notarzt gerufen werden muss um die tiefen Selbstverletzungen zu versorgen. Der Tag, an dem der Notarzt sie gegen ihren Willen in die Klinik bringen muss. Der Tag, an dem die Polizei eingeschaltet werden muss, weil sie sich der Notfallversorgung widersetzt. Der Tag, an dem die Zwangsernährung beginnt. Der Tag, an dem Du beginnst zu beten, dass sie wieder aufwacht. Es ist der Tag, den Du nie erleben wolltest. Doch es ist der Tag, den Ihr beide erleben müsst. Es ist der Tag, an dem sie sich entscheiden muss. Will ich leben oder sterben? Gibt es irgendwo einen Funken für den es sich lohnt zu leben? Gibt es ein WARUM, dass so stark ist, dass es sich dafür zu leben lohnt? Diese Frage kann nur sie beantworten. Diese Entscheidung muss sie für sich beantworten. Ganz allein. Auch wenn Du sie überreden möchtest, ihr die Worte in den Mund legen möchtest, sie schütteln möchtest. Auch wenn DU Angst vor der Antwort hast. Auch wenn Du Angst davor hast sie zu verlieren. Wenn sie sich für das Leben entscheidet, wird sie ihren Weg gehen.

Manchmal muss es erst schlimmer werden

Ich habe es oft gelesen, dass betroffene Mädchen und junge Frauen sich erst in diesen Zustand bringen mussten um echten Lebenswillen zu entwickeln. Die Entscheidung für Heilung musste erst ganz bewusst getroffen werden um den Weg bis zur Gesundung gehen zu können. Ich habe auch in meiner Praxis bereits mit einigen Frauen gearbeitet, die diese Erfahrung gemacht haben. Bis auf eine Frau sind alle erst zu diesem Zeitpunkt zu mir gekommen. Die Frauen waren mit ihren Kräften am Ende. Sie fühlten sich machtlos, manipuliert und willenlos. Zwei hatten kurzfristig suizidale Gedanken. Auch für die Mütter war es der Zeitpunkt für eine Entscheidung. Nämlich die Entscheidung sich gleichzeitig von mir begleiten zu lassen. Es musste erst schlimmer werden, bevor sie den Entschluss fassen konnten sich mit ihrem „Inneren“ zu beschäftigen. Es war an der Zeit die Situation mit anderen Augen zu betrachten. Zu schauen, was die Magersucht mit der Mama zu tun hat. Warum Mutter und Tochter die Krankheit immer wieder nähren. Was steckt dahinter und was darf gelöst werden. Sich ständig wiederholende Muster. Ein Kreislauf nach jedem weiteren Klinikaufenthalt. Immer wieder neue potenzielle Lösungen, die schon zu Beginn zu scheitern schienen. Spätestens nach dem zweiten Termin finden die Frauen die Klarheit, die sie zur Ruhe kommen lässt. Sie erkennen, dass sie sehr wohl machtvoll, wertvoll und liebenswert sind. Und sie erkennen, dass weniger oft mehr ist.

Doch für all diese Erkenntnisse muss es manchmal erst schlimmer werden, bevor es besser werden kann!

Von Herzen Danke, dass Du diesen Artikel gelesen hast. Vielleicht hast Du Fragen, die Dich selbst betreffen oder meine Arbeit. Du kannst mich über das Kontaktformular oder die Kommentarfunktion anschreiben oder meine Kanäle auf Social Media nutzen. Ich freue mich über jede Nachricht.

Herzlichst

Michaela

 

  

 

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Kommentare

Ich freue mich auf eure Kommentare, eigene Erfahrungen und eventuelle Fragen!

Kommentar von Sanne

Ich habe weinen müssen beim lesen. Es ist genau SO wie du es beschreibst. Danke für Dich!

Antwort von Michaela Pukrop

Du Liebe, von Herzen Danke für Deinen Kommentar und Deine lieben Worte. Du berührst mich

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